Schmutzig, dunkel, überbelegt – in Berliner Mietskasernen teilen sich um 1920 oftmals fünf oder mehr Menschen ein Zimmer. Wenn die einen arbeiten gehen, nutzen die anderen ihren Schlafplatz. Fast keine der Wohnungen hat ein Badezimmer, stattdessen gibt es eine Gemeinschaftstoilette auf dem Hof oder im Treppenhaus.
Vertreter des Neuen Bauens fordern schon seit Langem, die Wohnbedingungen für arme Bevölkerungsschichten zu verbessern. Aber erst in der Weimarer Republik erhalten Stadtplaner und Architekten die Möglichkeit dazu: Berlin wird zum Experimentierfeld innovativer Ideen des Städtebaus. Innerhalb weniger Jahre entstehen an den Rändern der Metropole die heutigen UNESCO-Welterbe-Siedlungen Hufeisensiedlung, Siedlung Schillerpark, Wohnstadt Carl Legien, Weiße Stadt und Großsiedlung Siemensstadt. Die Hufeisensiedlung ist die größte dieser Wohnanlagen und das Referenzprojekt der Reformbewegung.
Die zwei Seiten einer Allee
Noch Anfang der 1920er Jahre besteht der Süden Neuköllns aus unbebauten Freiflächen. Die Stadt Berlin kauft diese 1924 auf und beauftragt zwei Wohngenossenschaften mit der Errichtung der Großsiedlung Britz: die kommunale Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaus (DeGeWo) und die gewerkschaftsnahe Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft (GEHAG).
Oberflächlich betrachtet gehen beide Gesellschaften ähnlich vor. Sie errichten links und rechts der Fritz-Reuter-Allee Wohngeschossbauten und Reihenhäuser, die sie um eine zentrale Teichanlage herum planen. Doch tatsächlich trennt die Allee Lebenswelten und konträre Gesellschaftsentwürfe voneinander.
Östlich der Fritz-Reuter-Allee baut die DeGeWo in der Krugpfuhlsiedlung traditionelle Wohnhäuser mit historisierenden Fassaden wie im Kaiserreich: Satteldächer, Erker und Spitzgauben. Westlich davon liefert die GEHAG mit der Hufeisensiedlung einen radikalen Gegenentwurf: Wenn Sie die Allee entlanggehen, nehmen Sie den Kontrast wahr: Der Krugpfuhlsiedlung gegenüber steht die sogenannte Rote Front. 32 fast identische Hauseinheiten in tiefroter Farbe, unterbrochen durch Treppenhäuser, die den Hausfronten wie Wehrtürme vorgelagert sind. Die Bezeichnung „Rote Front“ orientiert sich damals nicht nur an der Farbe. Sie steht auch für die politische Haltung ihrer Planer und Bewohner.
Licht, Luft & Sonne
Dem zentralen hufeisenförmigen Wohnensemble verdankt die Siedlung ihren Namen. Der damalige GEHAG-Leiter Martin Wagner, maßgeblicher Planer und späterer Berliner Stadtbaurat, engagiert mit Bruno Taut einen Vertreter des Neuen Bauens als Architekten. Taut hat sich schon vor dem Ersten Weltkrieg mit der Gartenstadt Falkenberg einen Namen gemacht.
In der Hufeisensiedlung setzt er Maßstäbe für den modernen Wohnungsbau. Die insgesamt fast 2.000 Wohnungen der Geschossbauten und Reihenhäuser haben standardisierte Grundrisse. Alle verfügen über Wohn- und Schlafräume, ein Bad und eine Küche. Was heute selbstverständlich erscheint, ist damals für viele ein Luxus.
Statt Giebel verwendet Taut Flachdächer, um die Wohnfläche der Obergeschosse zu vergrößern. Moderne Fenster verbessern den Lichteinfall und sorgen für eine bessere Belüftung. Jede Wohnung verfügt über einen eigenen Garten oder zumindest einen Ausblick auf Grün- und Freiflächen, die der Landschaftsarchitekt Leberecht Migge für die Hufeisensiedlung gestaltet.
Ein markanter Ort ist der Wohnhof Hüsung: Hier kreiert Taut eine ländliches Idyll, Dorfplatz mit Linde inklusive. Zudem integriert der Architekt ein Café und eine Zentralwäscherei als Gemeinschaftsbereich in die Kopfbauten der Fritz-Reuter-Allee.
Bei der Fassaden- und Innengestaltung setzt Taut auf kontrastreiche Farben, die zu seinem Markenzeichen werden. Für ihn sind sie ein günstiges und wirkungsvolles Gestaltungsmittel. Den meisten Bewohnern gefallen die bunten Wände jedoch nicht und überkleben sie mit Tapete. Ein Bild von der Innenarchitektur können Sie sich in TAUTES HEIM oder der Infostation der Hufeisensiedlung machen.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die GEHAG baut die Hufeisensiedlung in sechs Bauabschnitten zwischen 1925 und 1930. Ein letzter, siebter Bauabschnitt entsteht 1932/33 ohne Tauts Beteiligung und unter großem Kostendruck. Dieser gehört nicht zum UNESCO-Welterbe.
Die Bauweise der Hufeisensiedlung folgt traditionellen Produktionsmethoden. Zwar kommen typisierte Bauteile und moderne Maschinen zum Einsatz. Allerdings sind die Häuser keine Stahlkonstruktionen, sondern basieren auf Mauerwerk.
Ihre soziale Aufgabe kann die Hufeisensiedlung nicht wie geplant erfüllen. Der Bau kostet genauso viel wie vergleichbare private Projekte. Folglich bleiben die Mieten hoch und für Arbeiter unbezahlbar. Stattdessen ziehen Angestellte, Handwerker, Selbstständige, Beamte sowie politisch engagierte Künstler und Intellektuelle ein.
Die Nationalsozialisten verfolgen nach ihrer Machtübernahme viele Bewohner der Hufeisensiedlung. Einer von ihnen ist der Anarchist und Schriftsteller Erich Mühsam, der 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet wird. Auch Bruno Taut und Martin Wagner verlassen Deutschland und gehen ins Exil.
Nach einer umfassenden Sanierung erstrahlen Tauts berühmte Farben heute wieder im alten Glanz.
Grand Tour der Moderne
Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 entwickelte der Bauhausverbund eine Grand Tour der Moderne, die Architekturfans durch ganz Deutschland führt. Die Hufeisensiedlung ist Bestandteil dieser Themenroute.
Die weiteren Berliner Standorte als Grand Tour der Berliner Moderne:
Grand Tour der Berliner Moderne
Unsere Tipps zur Hufeisensiedlung
Einen Einstieg in das Thema Großsiedlung gibt die vom Verein Freunde und Förderer der Hufeisensiedlung Berlin-Britz e.V. betriebene Infostation mit Café und Ausstellungsräumen. Bitte beachten Sie die Öffnungszeiten am Ende der Seite.
Infostation mit Café und Ausstellung
Fritz-Reuter-Allee 44, 12359 Berlin
Telefon (030) 420 269 612
Auf geführten Touren etlicher Anbieter können Sie tiefer in die Geschichte von Architektur und Alltag in der Hufeisensiedlung einsteigen. Tautes Heim „das mietbare Museum für Design- und Architektur-Liebhaber“, macht das Übernachten im Welterbe möglich.
Praktische Infos von visitBerlin
Nehmen Sie die U-Bahn-Linie 7 zur Blaschkoallee. Um die Stadt zu erkunden, empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin Welcome Card. Mit dem Fahrrad erschließen Sie sich schnell unweit der Hufeisensiedlung den Gutshof Britz mit dem Museum Neukölln, Britzer Garten oder das Arboretum an der Späth‘schen Baumschule in Berlin-Treptow.
Eine Bitte in eigener Sache
Die Hufeisensiedlung ist ein ausgewiesenes Flächendenkmal. Gleichzeitig ist sie aber auch das Zuhause vieler Menschen, die hier wohnen und arbeiten. Diese pflegen das Denkmal und helfen, die Erinnerung zu bewahren.
Bitte berücksichtigen Sie dies bei Ihrer Besichtigung. Vielen Dank!
Fritz-Reuter Allee 44
12359 Berlin
https://visitberlin.de/de/hufeisensiedlung
Koordinaten um Hufeisensiedlung mit dem Navigationssystem zu erreichen.
Längengrad: 13.4498942
Breitengrad: 52.4482189
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